Beim Faltenschalk

3. Januar 2016 / Eigenbericht. „Die machen mir ja Spaß“, stöhnt August Wellfleisch. „Haben die uns doch gestern einen Personenzug-Packwagen auf den Hof geschoben.“ „Die“, das sind die Beschaffungs-Dezernenten der DRG. „An sich verbraten die dafür meistens ihre zu Tausenden vorhandenen Pg pr. 14, aber wenn die werten Herren meinen …“

Ihm könne es ja egal sein, an welchem Wagen er durch die Wand muß. „Is jehuppt wie jesprung. Kommen Sie mit“, lädt er den Reporter ein. „Heute wird sich hier einiges drehen.“

Ach, diesen Dreiachser meinte Ingenieur Wellfleisch also. Und durch welche Wand …? Herr Wellfleisch runzelt die Stirn. Guter Mann, da haben Sie wohl bei der Vorrecherche getrieft? Lesen Sie mal vor“, reicht er ihm das zerfledderte Lehrbuch „Wagenkunde“ der Deutschen Reichsbahn. „Was steht da auf Seite 228?“ – „Die einander zugekehrten Stirnwände haben eine große Öffnung, so daß die beiden Wagen durch einen Übergang mit Brücke und Faltenbalg verbunden werden können. Da der Abstand der Stirnwände möglichst gering sein soll und nur 540 mm beträgt, wird hier an jedem Wagen nur ein Puffer, und zwar, von oben gesehen, der rechte, angebracht.“

„Sehen Sie, und darum müssen die Stirnwände raus. Die erwähnten Puffer hat die Frühschicht schon angepaßt, die sind aus leichtem Polystyrol.“ Dann grinst er plötzlich verschmitzt. „Heißt ja nicht umsonst Leichtgüterzug. Die Kurzkupplung hat der Wagen übrigens auch schon.“

Rückwärtig ist die Wagenwand von allen Tritten, Griffen und sonstigen hervortretenden Elementen befreit worden. „Dasselbe haben wir mit dem zugehörigen Güterwagen veranstaltet. Jetzt erkennen Sie das Prinzip, oder?“ Das sehe ja wohl ein Blinder, gibt der Reporter frech zurück, er sei ja nun nicht vom Generalanzeiger, sondern vom Stedelebener Kreisboten. „Daß das schwarze Ding daneben der Faltenbalg sein soll, habe ich auch gleich detektiert!“

Diesmal spart der Chef mit Lob und zerrt den Reporter vom Werksgleis. „Vorsicht, meine Leute wollen gleich mal die Wagen aneinanderschieben, um das Zusammenspiel zu prüfen. Wir haben nämlich den Verdacht, daß das Zusammenspiel von Kurzkupplungen und Faltenbalg in Gleisbögen Probleme bereiten könnte.“ Für den Laien sieht das gekuppelte Duo ganz normal aus. „Das kann gut gehen – muß aber nicht“, gibt August Wellfleisch zu bedenken. „Mir macht das Höhenspiel zwischen den Wagen Sorge, da gehe ich liebe auf Nummer sicher und lasse für das Gespann in den nächsten Tagen noch eine längere Deichsel anfertigen. So geht mir das jedenfalls nicht auf die Strecke.“

Derweil untersucht der Reporter schon wieder neugierig den Faltenbalg. „Der fasziniert Sie wohl, was?“ Sei das ein Wunder? „Sieht aus, wie eine Ziehharmonika.“ Genauso funktioniere er auch, erwidert der Ingenieur. „Er ist in Hybridbauweise entstanden. Gefaltet aus dünnem, reißfestem Scherenschnittpapier und an den Abschlüssen verstärkt mit Polystyrol.“ Dies diene später auch zur Befestigung an den Wagenenden.

„Und wie wird so ein Faltenbalg gefertigt?“ – „Wir nutzen dazu das bewährte Manfred-Liese-Verfahren. Das taugt zwar am besten für Fahrzeuge großer Spurweiten, aber unser Faltenbalg-Fachmann hat es in jahrelanger Übung geschafft, hinreichende Ergebnisse auch für kleinere Anwendungsfälle wie unseren zu erzielen.“

Darf man da mal zuschauen? „Besser nicht“, so Herr Wellfleisch. „Unser Kollege Schalk ist hochbetagt und etwas seltsam, er entflieht der Gattin nur stundenweise in seine alte Werkstatt und schließt sich immer ein, wenn er einen Faltenbalg herstellen soll. Um ungestört zu sein, arbeitet er nur nachts. Ich kann Ihnen nur die Tür zu seinem Revier zeigen, hinein darf da aber niemand.“

An der Tür mit dem Schild „Zutritt strengstens verboten!“ klebt ein vergilbter Zettel. Offenbar sind das Reime. „Gesicht mit Falten“, liest der Reporter halblaut. „Na, mit dem Lesen klappt es wohl auch nicht so recht, junger Mann“, räuspert sich hinter ihm August Wellfleisch, „oder sind es die Augen?“ Tatsächlich, beim zweiten Hinschauen steht da ganz deutlich „Gedicht mit Falten.“ Wer das da angepinnt hat, wisse niemand, aber er könne den Quatsch gerne für seine Leser abschreiben, meint der Ingenieur mit abschätziger Geste. „Ich muß wieder an die Arbeit. Sie finden nachher allein den Weg zurück?“