Gestrandet in Großbommeln

4. November 2012 / Eigenbericht. – So was hat diese Gemeinde noch nicht gesehen: Eine Pinasse hat am Bahnhof angelegt.

Die ruhige Landgemeinde Großbommeln ist als Marktplatz der Sensationen nicht eben weltbekannt. Folglich nimmt es kaum wunder, daß sich dem Vernehmen nach dieser Tage ein Schuljunge eine schallende Backpfeife vom örtlichen Bäckermeister Lamprecht eingefangen haben soll, als er im vollen Laden aufgeregt verkündete, am Bahnhof wäre ein echtes großes Schiff zu sehen! Erst nachdem er Stein und Bein geschworen hatte, nicht geschwindelt zu haben, stieg der örtliche Pastor aufs Rad, um der Sache auf den Grund zu gehen. Und beim Herrn, tatsächlich! Nun war Eile geboten, damit die frohe Kunde sich im Dorfe verbreite wie ein Lauffeuer, was selbstredend der Geistliche persönlich übernahm. Zuvor aber informierte er vom Büro des Bahnhofsvorstehers aus noch fernmündlich den Stedelebener Kreisboten.

Das „große Schiff“ erwies sich beim Eintreffen des Photo-Reporters dann doch eher als Motorboot, aber ohne Zweifel als „echt“ und sogar hochseetauglich. Es hatte auch nicht angelegt oder festgemacht, sondern war – sicher auf einen Flachwaggon verladen – von der Stedelebener Kreisbahn mit ihrer betagten preußischen T3-Tenderlok lediglich für eine Stunde aufs Bahnsteiggleis des Bahnhofs Großbommeln geschoben worden. Daselbst galt es, auf Abholung durch eine Lok der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft zu warten.

Warum aber die Übergabe in Großbommeln und nicht in Stedeleben, wo die DRG sonst Waggons von der SKB übernimmt? „In Stedeleben haben wir zur Zeit dringende Gleisbauarbeiten“, so der Stationsvorsteher auf die Reporterfrage, „da ist das Übergabegleis ständig belegt.“ Und in nicht ganz so freundlichem Tone setzte er hinzu: „Dann müssen sich die werten Herren Staatsbahner mit ihrer schweren T9 eben mal bis nach Bommeln bequemen!“

Treue Leser des „Kreisboten“ dürften unterdessen längst ahnen, woher besagtes Boot stammte: Nämlich aus der in unsrer Ausgabe vom 19. Oktober vorgestellten Bootswerft Schmolke in Hintzemuckel. Dort war es auch auf seinen Waggon gehievt worden. Es handelt sich um eben jenen „nächsten größeren Auftrag“, von dem der Firmeninhaber Karl-Heinz Schmolke letztens berichtet hatte, also jene „alte Pinasse von der Reichsmarine, die wir zu einem zivilen Boot umbauen“.

Dies scheint, mit den Augen des Laien betrachtet, gelungen zu sein. Allein schon die Farbgebung ist sehr viel freundlicher. Das Grau der Beiboote heutiger großer Kriegsschiffe wich bei Schmolke einem grün-weißen Rumpf, während die neu aufgesetzte Kajüte, die Einfassung der Frontscheibe, die vordere Deckluke sowie die inneren Paneele nun in einem edlen Mahagoniton gehalten sind. Mit Zierrat ist die Werft ansonsten eher sparsam umgegangen; lediglich die Türknäufe, die Einfassungen der Bullaugen, die beiden freistehenden Reelings und die Griffstangen an den Längsseiten der Kajüte bestehen aus glänzendem Messing und verleihen dem Ganzen eine gewisse Noblesse, wie auf den Lichtbildern unschwer zu erkennen ist.

Inzwischen ist die teure Fracht dem Vernehmen nach dank Deutscher Reichsbahn bei ihrem recht wohlhabenden Käufer eingetroffen. Dieser wolle, so hört man, damit alsbald im Berlinischen auf Spree und Havel unterwegs sein. In Großbommeln hat sich die Aufregung über das seltene Ereignis derweil etwas gelegt. Nur die Schulkinder schauen weiterhin jeden Tag nach, ob am Bahnhof vielleicht wieder ein Boot aus Hintzemuckel gestrandet ist. Und was das unlängst an der dörflichen Milchrampe aufgeworfene Rätsel anbelangt, warum wohl Herr Pfarrer ins Zentrum seiner letzten Sonntagspredigt das Sprichwort „Kindermund tut Wahrheit kund!“ gestellt haben mag, frage man am besten den Bäckermeister Lamprecht.