Schöner wohnen in Stedeleben

11. Dezember 2011 / Eigenbericht. –Treue Leser unseres Blattes werden sich entsinnen, daß wir im Sommer auf unseren Seiten vom Neubezug des Stedelebener Bahnhofs sowie der Renovierung des Bahnhofslokals berichteten. Jedoch soll es heute nicht um den neuen Pächter Paul Ritzenfitz gehen. Unser Wochenend-Bilderbogen gilt dem trauten Heim und der Familie des neuen Bahnhofsvorstehers.

Nie hätte Waldemar Tragisch gedacht, daß er einmal den Alltag auf dem Heimatbahnhof der SKB bestimmen würde. Seine Stellwerker-Lehre hatte er bei der Königlich Preußischen Eisenbahn-Verwaltung in Magdeburg absolviert. Bei Gründung der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft wegen einer Kriegsverletzung in den Innendienst versetzt, vereitelten die Krisenjahre seine Verbeamtung. Als gar die Entlassung drohte, war ihm das Glück doppelt hold: Ein Fräulein, dem er die Ehe versprach, hatte einen Onkel mit Verbindungen zur Stedelebener Kreisbahn. Dies führte ihn als Stationsgehilfen zur SKB – Dienstort Hintzemuckel. In dem Dorf wurden auch die Zwillinge Hans und Frieder geboren. Später versetzte ihn die SKB nach Großbommeln; die Gattin nahm dort eine Bürostelle in der Güterabfertigung an. „Sie ist dann mit einem Spediteur durchgebrannt.“ Mehr will Waldemar Tragisch dazu nicht sagen. Seiner neuen Frau Else, geb. Hoppenstedt, machte er den Antrag, als die SKB ihn zum Nachfolger des vielen Lesern noch gut bekannten Stedelebener Stationsvorstehers Ottokar Nickel beförderte.

Während der Gatte im Stationsbüro seinen Pflichten nachgeht, führt uns Else Tragisch durchs Obergeschoß, zunächst in die Küche. Die Türen des Wandschranks sind im selben Beige wie Büffet, Spül- und Küchentisch sowie Stühle gestrichen. Bevor wir uns den Stuben zuwenden, dreht sie das Gas unter dem großen Topf ab. „Es gibt Kohlsuppe. Die Jungs sind jetzt 14, die langen tüchtig zu.“

Deren Zimmer liegt gegenüber. Alles ist hell gehalten, auch das Bettzeug. „Hier schläft Hans“, sagt die Stiefmutter und zeigt auf die Photographien über seinem Bett. „Er liebt Autos und möchte zu Meister Höllerich in Großbommeln in die Lehre. Frieder will zum Ballett.“ Seine Zimmerhälfte ziert eine Szene aus dem „Sterbenden Schwan“. „Das ist die russische Primaballerina Anna Pawlowa.“

Jugendstil prägt die eheliche Schlafstube mit Kleiderschrank, Frisiertoilette, Doppelbett, Nachttisch und Leselampe. „Eine echte Seidel & Naumann“, streicht Frau Tragisch liebevoll mit der Hand über den Nähmaschinendeckel. „Mein Hochzeitsgeschenk.“ So erfahren wir, daß sie zum Unterhalt der Familie beiträgt, indem sie in Heimarbeit Nacht- und Tischwäsche näht. „Lange steht die nicht mehr hier“, lächelt sie vielsagend und holt aus dem untersten Wäschefach eine winzige Garnitur Bettwäsche. Wir verstehen.

Ihr ganzer Stolz ist die Gute Stube, das einzige Zimmer mit zwei Fenstern. Auf dem Tisch frische Blumen, Gemütlichkeit verströmt ein Plüschsofa. Sind Bücherregal, Anrichte und Büffet etwa aus rotem Mahagoni? „Nein, nur Imitat“, beruhigt uns Else Tragisch. „Das ist der Stammplatz meines Vaters“, weist sie auf den Schaukel-Ohrensessel, neben dem auf der Anrichte ein Rundfunk-Empfänger der Dresdner Firma H. Mende & Co. in Nußbaumfurnier mit Bakelit-Drehknöpfen steht. „Hier hört er immer die Funk-Stunde aus Berlin. Seine Kammer ist unterm Dach, aber dort läßt er niemanden hinein.“ Über dem Sessel hängt das delikate Porträt einer dunkelhäutigen Schönheit – mit nichts weiter bekleidet als einem Röckchen aus Bananen. „Das ist Josephine Baker. Mein Vater hat sie 1926 in Berlin kennengelernt, als sie der Star der Nelson-Revue war. Wegen der Dame, sagt sie mit leicht verächtlichem Unterton, endete seine Offizierslaufbahn. Er himmelt sie immer noch an. Verstehe einer die Männer.“

Ein Blick auf den Regulator in der Ecke sagt uns, daß die Söhne bald vom Unterricht kommen werden. Aus der Küche riecht es nach Kohl, und so danken wir uns vorm Gehen für den Rundgang in dem guten Gefühl, daß es sich auch in unserer ländlichen Gegend recht gut leben läßt.